Tag 2
NOVA Red Bull X-Alps-Blog: MO, 21.06.2021
Fakt: Maxime flog allein vor einem großen Favoritenpulk tief in die Streif ein und musste wegen fehlender Landeplätze im Ziel der Herrenabfahrt landen. Strafwandern ohne Ende. Am Signierbrett bei der Mausefalle zeichneten nach den zwei Ausreißern Markus Anders (GER) und Paul Guschlbauer (AUT) sechs weitere im Pulk ab, unter ihnen Maximes Rivale Chrigel Maurer (SUI). Der Pulk startete raus und hatte keine Mühe, im Zusammenspiel Paul einzuholen und Markus fast.
Ich persönlich mag die einsamen Streiter, darum auch Maxime und Chrigel. Wenn die tagelang allein ihre Süppchen kochen, das finde ich faszinierend. Ich sehe auch Tendenzen bei unseren jungen NOVA-Piloten, sich allein auf die Thermik-Pirsch zu machen. So auch heute. Es ist zwar eine irrationale, wirklichkeitsverzerrte Wahrnehmung, was wir hier am Bildschirm zu sehen bekommen. Aber man beginnt, mit dem Bildschirm zu sprechen und Gefühle zu den farbigen Linien in vorgegaukeltem 3D-Gelände zu entwickeln.
Da muss ich gleich Ken Oguma heranziehen. Mann, was hat der junge Japaner mich von morgens sechs Uhr bis am Nachmittag auf die Folter gespannt. Ich hoffe, er hatte mehr Nerven, als ich. Haarsträubend, haarsträubend gut. Mehr zu Kens Dramen nachher. Zuerst eine ähnliche Beurteilung von Théo de Blic (FRA) und heute wenig von Nicola Donini (ITA), kommt sicher wieder, der wird sich schon zu zeigen wissen.
Théo hat heute Nicola eingeholt, wenigstens für ‘ne Weile. Chapeau, mon ami! Er musste lange Stunden von fünf in der Früh an laufen – ich hab’ das kontrolliert, ich war auch auf, Freunde. Es gibt ja kein Replay in diesem ganzen elektronischen Rennen – man muss dauernd dabei sein – unfair, aber so sind Marketing-Leute, manche – manchmal. Ach, also, was wollte ich schreiben?
Dann ist Théo taktisch klug geflogen, profitierte von hohen Flughöhen, die sicher nicht einfach zu realisieren waren, die Ablösungen nicht einfach zu lokalisieren. Jenseits des Zellersees war es so weit: Théo in hoffnungsvoller Höhe im Anflug. Dann war aber auch gleich wieder der Ofen aus, für Théo und einige Mitstreiter – auch Nicola. Irgendwie wollte es nicht mehr aus dem Glemmtal raus, für das sich die Mehrheit entschied. Vorne durch am Pinzgauer Spaziergang ging auch, aber es lag nicht auf der Linie und es ging auch nicht mit Sicherheit besser und damit schneller. Aber eben: Im Glemmtal klemmte es zuweilen gehörig. Nord- wie südseitig ging es nicht hoch. Am Bildschirm sah es so aus, als würde den Jungs die Fantasie fehlen. Man sah eine Menge bunter Linien in der 2D-Grafik, die funktionierten. Aber das ist eben Bildschirmfliegen.
Nun, unsere beiden Piloten Théo und Nicola mussten sich im Glemmtal und knapp jenseits, Kitzbühel im Blickfeld, ziemlich genau drei Uhr nachmittags am Boden überholen lassen – sie am Boden, die Überholer und die Überholerin in der Luft. Ja, auch Yael Margelisch (SUI), die zweite Frau des Tages, hat die Überholspur gefunden. In einer unglaublichen Höhe und ohne Rumsoaren querte sie diagonal über das hintere Glemmtal und weg war sie Richtung Wende Kitzbühel. Die Französin Laurie Genovese flog lange vor Mittag schon in vorderen Gruppen und sah bereits am frühen Nachmittag den Chiemsee über den Beinsack hinweg. Respekt!
So, jetzt aber exemplarisch für den Tag zu Ken Oguma, den ich um sein schneidiges NOVA-Gurtzeug beneide. Ich würde es wohl beim ersten Start zerstören. Aber reden wir von Ken. Ken, er durfte morgens erst um etwa zehn vor Sechs losmarschieren. Da er auf 1700 Metern übernachtete, war es ein kurzer Marsch auf den nächsten guten Startplatz. Er ließ sich Zeit für einen ersten Gleitflug über ein Seitental nach Westen, landete am Hang und stieg dort auf zur Arlspitze, setzt sich am Gipfel in gut 2100 Metern ins Gras, und wartete. Und dann wartete er, und wartete. Warum nicht mal rasch noch ein Tal überfliegen und dort warten, bis die Thermik kommt?
Dann startete er – und landete nach ein paar Schlaufen vor dem Gipfel wieder. Mann, Ken, das ist ein Rennen, vergessen? Moment, hier sind meine Notizen vom Morgen:
1009 Uhr
Hüben und drüben steigt es! 2800, 2400, Lauri Genovese, die beiden Japaner, Paul, Patrick, Nicola als höchster jetzt – das Rennen ist eröffnet.
Also, gut ausgeruht ging Ken endlich ins Rennen. Und man fasst es nicht – zwei Stunden später notiere ich:
1203 Uhr
Das ist ja sowas von cool! Ist das Glück oder Können? Ken hat sich an seinem langen Haarschopf aus dem Sumpf gezogen! Über Saalbach – notabene gleichauf mit Chrigel Maurer, der allerdings in sicheren Höhen fliegt – gleitet sich Ken ins Unglück. Unter 1500 Meter, wo so viele heute Morgen einen oder zwei Neustarts machten, z. B. Nicola Donini, der noch immer am Hochlaufen ist. Was macht da der gute Ken? Er wechselt an die Schattseite des Tals, in Rufweite zu den Leuten im Dorf. Ich denke, er will landen und auf dieser Seite, geschützter vom Talwind, einen Startplatz ansteigen, zu Fuss. Aber kaum hundert Meter über dem Talgrund, was sind das, 1100 Meter vielleicht, dreht er ein und steigt davon. Ich fass es nicht! Wieder ist Ken sehr gut im Rennen. Gut zwanzig Kilometer noch bis zum Hahnenkamm. Erst Paul und Markus sind dort zum Abzeichnen gelandet. Eine Handvoll andere Athleten gleiten Richtung Turnpoint. Wende. Toll Ken, also wirklich.
Jeder, der Low Saves hinter sich hat, wird meine Begeisterung teilen. Das war wirklich ein unglaublicher Schachzug von Ken. Nachmittags gegen 16 Uhr nach guter Wende in Kitzbühel verpasste er als erster (aber in der Folge nicht letzter) den Anschluss an den Wilden Kaiser, der letzten markanten Felswand vor den Voralpen. Wie zu erwarten war, wurde es gegen Norden und gegen Abend hin stabiler – und der sogenannte Bayerische Wind, Schrecken der einheimischen Piloten, steht den Athleten von Norden ins Gesicht.
Théo de Blic gleitet am späteren Nachmittag gut an die Wende Hahnenkamm / Kitzbühel heran, landet dann aber unten im Tal. War das schon Frust? Nick Donini mühte sich zum wiederholten Mal mit einem Wiederaufstieg ab, auch nahe des Turnpoints Hahnenkamm. Gegen Sechs abends gingen die Chancen auf einen guten weiteren Flug stark zurück.
Ein ganz anderer Renntag als gestern war das heute: die Luft klarer, die Basis höher, es gab sogar eine Basis, nicht nur blaue und graue Suppe. Frühe Thermik, schwierige Gleitstrecken aus großer Höhe in gewaltige Tiefen. Selbst Chrigel Maurer zeigte Schwächen, als er an der Schmittenhöhe losflog und sich gleich mal an einen Osthang im Glemmtal parkierte, während ein Dutzend andere über ihn hinwegzogen. Maximes Pech haben wir besprochen.
Spannend und für Bildschirmzuschauer eindrücklich: Hinaus aus den Alpen Tirols in die Bayerischen Alpen und schließlich in die große Weite des Flachlandes hinaus – fast bis über den Chiemsee, das «Bayerische Meer». Der deutsche X-Alps-Veteran Markus Anders flog als Erster auf dem Delta der Tiroler Achen am Chiemsee ein, steifer Nordwind ließ ihn vor dem Wendezylinder landen. Chrigel Maurer führte eine Verfolgergruppe von sechs Leuten zur Wende, während Markus schon in den Zylinder lief und ihn abtrackte. Lustig, es landeten innerhalb Minuten: AUT1/2, ITA1/2 und SUI1/2. Man könnte meinen, das seien die Teams und Nummern, die es zu verfolgen gälte. Aber weit gefehlt. Die Verfolger sind international. Die Verfolgerinnen auch. Franzosen von 1 bis 5 immer in Schlagdistanz, Belgier, Holländer und so weiter, und so weiter. Es ist eben noch nicht das Einzelkämpfer-X-Alps, zu dem es irgendwann wohl wird dieser Tage.
Sechs Uhr abends machen sich die ersten auf den Weg zu Fuß und in der Luft Richtung Zugspitze. Der Blog geht ins Netz, wenn noch geflogen werden kann.
Screenhots des Tages: Nicola Donini heute abends um Sieben, der Wilder Kaiser türmt sich vor ihm auf. Dahinter ist das Spitzenfeld bereits auf dem Weg zur Zugspitze. Nicola hat noch den weiten Weg hinaus ins Flache an den Chiemsee vor sich. Er wird noch eine Weile laufen heute. Aber noch nicht jetzt. Mitten im Tal findet er Steigen über einen Meter pro Sekunde. Das ist Strecke, die nicht weh tut. Er ist viel gelaufen heute. Gönnen wir ihm jeden Meter, den er heute noch steigt!
Text: Roli Mäder (NOVA Teampilot)
PS: Hier gehts schon mal zum Video des Tages. Weitere aktuelle Clips findet ihr auch in unserer Facebook-Playlist.