Tag 10
NOVA X-Alps-Blog: DI, 29.06.21
Hinten ist der Käse ziemlich gegessen
Es ist eine leidige Tatsache des Rennens, dass die meisten Mannen und Frauen, die jetzt noch unterwegs sind, das Ziel nicht sehen werden. Die Wetteraussichten bis am Donnerstag werden keine solche magischen Flüge mehr zulassen, wie sie Chrigel und die Vierer-Fluggruppe hinter ihm gestern nochmal erleben durften. Mit die weitesten und genüsslichsten Hochalpenflüge der X-Alps 2021 waren dies, während im Westen kaum ein Schirm am düsteren Himmel zu sehen war. Théo de Blic traf sicher keine schlechte Entscheidung, als er Pfannkuchenessen dem Wandern im Hagel vorzog…
Der Weg am Boden ist nun das täglich Brot der Übriggebliebenen, ein karges Brot. Ungleich langsamer und langweilig ist es für die Athleten im Hinterfeld, wenn nicht öde oder gar ein Leidensweg. Das Dumme an Hike & Fly-Wettbewerben: Beim Hiken zum Vorwärtskommen (und nicht als Aufstieg zum Startplatz) ist der Weg entlang der Straße der effektivste. Das Zischen der Autoreifen auf der nassen Fahrbahn ist die Musik, die die Läufer begleitet. Der Geruch von Diesel und Benzin ist der Duft der weiten Alpenwelt für sie. Ein paar tröstliche Fußmärsche zu Abgleitern über ein Tal hinweg – sehr viel mehr verheißen die Prognosen nicht.
Der längste Flug war NICHT von Chrigel
Also, dann schauen wir mal auf die kleinen bunten Männchen oder Gleitschirmchen auf dem Monitor. Da ist heute noch Spannung drin, eigentlich sogar mehr als gestern. Wobei Chrigel gestern nicht gänzlich außer Gefahr war, eingeholt zu werden (was im allgemeinen Siegestaumel etwas unterging). Die «drei Musketiere» auf Chrigels Fersen, Patrick von Känel, Maxime Pinot und Simon Oberrauner, lieferten geschlossen den weitesten Flug der ganzen Veranstaltung ab: 225 Kilometer gerade Linie, etwa zehn Kilometer weiter auf der X-Alps-Linie als der Meister am Tag zuvor. Maxime legte dabei 356,11 km tatsächliche Flugstrecke zurück!
Die Drei setzten auf dem Kronplatz nur wenige Stunden hinter Chrigel zur Landung und zum Abzeichnen an. Hätte der Maurer-Meister vorne was verbockt oder wäre er vom Wetter ausgebremst worden, dann hätten die Loblieder (auch unsere) auf Chrigels Magic Move nicht mehr so laut getönt. Da wären die Musketiere besungen worden.
Eine Frage der Einstellung
Benoit Outters musste sich derweil vom Kampf um einem Platz unter den ersten Drei verabschieden. Das Podium, erklärte er noch kürzlich, betrachte er nicht als sein Ziel. Mit einem guten Team dabei sein und sein Ding durchziehen, womöglich bis auf das Floß im Zeller See – dies ist sein X-Alps-Spirit! Unvergessen sein gemeinsames Einlaufen im Ziel in Monaco mit Paul Guschlbauer, statt um jeden Meter zu kämpfen. Streckenweise empfand ich auch dieses Jahr mehr als Respekt für den Südfranzosen. Seine Flüge waren begeisternd. Er führte gestern seine Gruppe im Flug vom Comer See durch das Veltlin. Seine eigentlich mutige taktische Entscheidung, vor dem notwendigen Abbiegen in die Hochalpen länger als alle anderen in diesem Tal zu bleiben, warf ihn am Ende des Tages hoffnungslos zurück. Aber sie zeigt, dass er es ernst damit meint: SEIN Ding zu machen. Erfreulich: Er wird das Ziel sehen, vermutlich allein auf weiter Flur.
Die drei Musketiere auf dem Weg zur Schmitten
Noch vor halb zehn Uhr morgens probiert Patrick von Känel, am Rammelstein über dem Antholzer Tal die erste Thermik zu finden. Aber er landet unter dem Gipfel schnell wieder ein. Beim Aufstieg hatte es noch geregnet, jetzt hat es ganz gut aufgemacht. Auf dem ergiebigsten XC-Startplatz der Ostalpen, der Grente-Alm, hocken und warten derweil Simon Oberrauner und Maxime Pinot noch auf die erste nutzbare Ablösung. Patrick probiert es zum zweiten Mal, diesmal höher am Gipfel. Er steigt, achtert, kann den Gipfel überhöhen. Jetzt können ihn Simon und Maxime wahrscheinlich schon sehen…
Patrick landet wieder ein – hundert Meter höher am Berg als die beiden drüben auf der Grente. Ein Morgenpoker um den ersten Streckengewinn hat begonnen. Jeder kleine Fehler kann einen Podiumsplatz kosten. Noch liegen Wolken auf den Gipfeln auf und es ist feucht. Die hohen Alpenübergänge nach Österreich scheinen unüberwindbar in der Luft – für uns Außenstehende jedenfalls. Zwischen Großvenediger und Großglockner, auf der direkten Linie nach Zell, baut sich ein zweites Gebirge auf, ein Wolkengebirge. Kurz vor elf Uhr sind alle drei in der Luft und können aufdrehen. Maxime fliegt als erster tief weg an die Hänge über Antholz-Mittertal.
Das Wandern ist des Théos Lust. Wirklich?
Hunderte Kilometer weiter hinten schnürt Théo de Blic erst gegen neun Uhr morgens seine Schuhe und ersteigt den nächsten Berg. Ein einziger Blick auf irgendeine Webcam in den Savoyer Alpen zeigt es: Hier wird nur bergab geflogen. Alles dicht. Und keine Aussicht auf Besserung. Nachdem Gavin McClurg Boden gut machen konnte, muss Théo mit seiner heutigen Tagesstrecke Kaoru Ogisawa zwei Tagesstrecken weit auf Distanz halten, sonst wird er am Donnerstag eliminiert. Der Japaner wandert derweil im Wallis talauswärts. Das ist… doch ganz schön nah.
Unschön genug, dass NOVA-Pilot Théo in seiner Heimat zwei ganze Tage die Strafe für seine Luftraumverletzung im Wallis absitzen muss. Aber vor der Zeit aussteigen? Unter den Flanken des Mont Blanc auf französischem Boden möchte sich Théo dieser Prozedur erst recht nicht unterziehen. Den Schlusspfiff nur einen Tag später möchte er auf dem Spielfeld hören. Oder nicht? Vielleicht macht das für ihn keinen Unterschied. Was wissen wir aus der Ferne schon, was im echten Rennen menschlich abgeht? Wir sehen auf dem Bildschirm nur die harten und vielleicht öden Fakten und telefonieren und mailen ein wenig in der Gegend herum.
Die Jagd über den Alpenhauptkamm
Jetzt wird es an der Spitze supereng und hochinteressant. Über dem Defereggental fliegen die drei über Kilometer zusammen. Dann zweigen Maxime und Patrick zuerst nach Norden Richtung Tauern ab und queren das Virgental. Sie wittern eine Chance, vielleicht unter den Wolken auf 3000 Metern nach Österreich zu kommen. Simon bleibt noch über zehn Kilometer lang am Grat, quert das Iseltal zum Rotenkogel und setzt erst dann den Blinker nach Norden. Nerven hat der Junge! Aber er holt die verlorene Strecke auf, denn er kann über dem Grat bleiben, der ihn mit dem (Seiten-)Wind bis auf den Alpenkamm beim Stubacher Sonnblick trägt, wo er nach Österreich hineingleitet. Am Sonnblick werden gegen Mittag nahe 40 km/h Ost-Südostwind gemessen, kein Föhn, aber eben ganz schön viel Wind für uns Fetzenflieger. Den bekommen auch Maxime und Patrick einen guten Kilometer westlich zu spüren. Sie überfliegen den Hauptkamm beim 2900 Meter hohen Landeggkopf (über dem Felberntauerntunnel).
Jetzt beginnt der Rückenwindkrimi auf dem Weg zur nur noch 20 km entfernten Schmittenhöhe. Wer dort zuerst einfliegt oder einläuft, der wird Zweiter hinter König Chrigel. Und dieser Platz ist der einzige, der in den letzten sieben Jahren zu haben war. Zwar hinter dem Adler von Adelboden, aber trotzdem ein überaus prestigeträchtiger Rang.
Ein Race um Sekunden!
Kurz reiße ich mich vom Bildschirm los, will schnell etwas essen. Als ich zurückkomme, gar nicht so lange später, habe ich Entscheidendes verpasst. Maxime hat wieder verloren, wie schon so oft dieser Tage und zuletzt so empfindlich am Simplon. Patrick hat gewonnen, wie schon so oft dieser Tage, zuletzt am Monte Rosa, wo er die Franzosen einholte. Ein bisschen verloren hat Simon, der fast nur aufgeholt hat in den letzten Tagen, der den zweiten Platz wahrlich verdient hätte, vor allem bei DEM Zieleinflug auf der Schmitten.
Da war ich zurück vom Essen… Es ging um Leinenlängen, meine Damen und Herren, um Leinenlängen! Das ist nicht übertrieben und so verrückt wie manches an diesem Rennen. Nach neun Tagen Entbehrungen und Gefahren fliegen AUT 2 und SUI 2 nur ein paar Meter übereinander, um den letzten Wendepunkt anzugleiten. Und dort wird das Rennen entschieden. Nur noch ein einziger Kilometer nach über 1000 – er wird es entscheiden! Kurz vor der Schmitten drehen Simon und Patrick im letzten Bart. Patrick dreht ein paar Leinenlängen über Simon und landet in den Hang unter der Boje ein. Simon fliegt auch aus dem Steigen und landet keine zweihundert Meter (!) hinter Patrick. Sie raffen ihre Schirme auf die Schulter und laufen los, sprinten los, den Hang hinauf. Patrick hat etwa zwei Minuten Vorsprung. Den gibt er nicht mehr her. So, der Krimi ist vorbei.
Während Patrick uneinholbar über den See hinaus entgleitet, kann Simon endlich durchschnaufen. Kurz darauf gleitet auch er zum Floß ab. Eine halbe Stunde später macht Maxime Pinot ohne Stress genug Höhe, um einzulanden und sich den finalen Abgleiter zu gönnen. Auf Platz 4, jetzt wohl recht entspannt, aber vermutlich auch etwas enttäuscht.
Noch ein rascher Blick zurück, dann schließen wir heute den Tagesbericht früh ab mit einem Nachtrag morgen wo nötig. Ich sehe, Benoit kann den Kronplatz anfliegen. Sehr schön, flieg noch weit, Benoit! Ich sehe, Aaron konnte im Tessin hier zehn, da zehn Kilometer fliegen und leistet Paul vielleicht bald mal Gesellschaft im langen Veltlin, wo es viel zu laufen geben könnte. Ansonsten, glaube ich, wird das Wetter heute keine wesentlichen Veränderungen mehr zulassen.
Mit lieben Gruß, Roli Mäder (NOVA Team Pilot)
PS: Schaut euch unsere X-Alps-Clips in den YouTube- und Facebook-Playlisten an. Hier das Video zu Tag 10.