Tag 12
NOVA X-Alps Blog: DO, 01.07.21
Eine Super-Route – XC-Fliegen in Reinkultur
So viele Piloten haben noch nie so lange um den Sieg gekämpft. Das war super! Selbst am vorletzten Tag hatten die Verfolger fast noch Chancen den Über-Chrigel einzuholen. Maxime Pinot soll völlig erschüttert gewesen sein, als er nach seinem Über-Flug erfuhr, dass Chrigel schon das Ziel erreicht hatte.
Perfektes Alpenfliegen in allen Variationen bekamen wir geboten. Auch schöne Bergmärsche, denn das lieben die X-Alps‘ler auch, dafür haben sie abertausende Höhenmeter trainiert. Théo konnte die Schweizer Route nicht vor Ort befliegen, was er ursprünglich beabsichtigt hatte. Andere Athleten ebenfalls – der Covid-Reiseregeln wegen. Das mag für den einen oder anderen Unfall, für Luftraumverletzungen oder taktische Fehler mit ein Grund gewesen sein. In Frankreich und Italien wird offenbar auch weniger mit Seilbahnen Heu und Holz von den Bergen geholt. Sonst hätten die Piloten das vor Ort von uns Locals erfahren. Dafür habe ich fast ein schlechtes Gewissen… Denn das ist etwas, was man trainieren kann, nein, was man verinnerlichen muss, wenn man in der Schweiz fliegt – besonders auf dieser Linie durch die Innerschweiz.
Die fehlende Frankreich-Route hinab ans Mittelmeer hat ironischer Weise dieses Mal den Siegern geholfen. Vorher war es oft so, dass hinten länger im schlechten Wetter geflogen werden musste, während an der Spitze aus Westen eine Besserung eintrat – eben in Frankreich. Zog das gute Wetter weiter nach Osten, konnten die hinten wieder etwas aufholen. Diesmal zog das gute Wetter zusammen mit den Spitzenpulk ab nach Osten und im Westen wurden die Athleten von überaus mäßigen Verhältnissen am Boden gehalten. Es ging wenig bis gar nichts mehr..
Stabil – labil – Wind: von allem zu viel
Trotz dieses spannenden Rennens hat das Wetter große Lücken unter den Frauen und Männern aufgerissen. Dem großen Rest hinter den schließlich Wenigen im Ziel hätte man mehr gute Flugtage gewünscht, ein glücklicheres Händchen bei der Routenwahl hinsichtlich des Wetters, mehr Glück bei den täglichen Flugmöglichkeiten, die zuweilen krasse Rote-Ampeln-Phasen herstellten. Gefährlich war oft genug der Wind. Die Unfälle und Horrorlandungen, die man im Netz findet – nicht auf der offiziellen Red-Bull-Seite – führten zu Verletzungen ohne ernsthafte körperliche Folgen. Was wir hörten: Ken Oguma wurde am Mittelfuß operiert und wird morgen aus dem Krankenhaus entlassen. Er ist guter Dinge, begeistert vom Event und denkt schon über die X-Alps 2023 nach. Tom Friedrich landetet wohl eher unspektakulär und prellte sich die Ferse. Er humpelt an Krücken durchs „Fahrerlager“ und lacht. Markus Anders hatte bei der Landung deutlich zu viel „Schwung“. Überschlug sich mehrfach und verletzte sich an der Hand. Nichts Schlimmes. Nick Donini hatte Glück im Unglück bei der Begegnung mit dem Kabel der Materialseilbahn: Er hat Haarrisse in zwei Wirbeln, aber nichts Gravierendes. Seine Therapie besteht aus vier bis sechs Wochen Nichtstun. Auch er denkt schon laut über die X-Alps 2023 nach…
Speed-Landen als Disziplin?
Hike & Fly boomt und auch solche Wettkämpfe. Das wird auf die Spitze getrieben von den Hüttenwettkämpfen wie der Eigertour vor meiner Haustüre. Da müssen die Teilnehmer an den Turnpoints einlanden. Und diese Bojen sind SAC-Hütten, also Bergunterkünfte. Sie stehen auf Felsköpfen, in windigen Sätteln und auf scharfen Graten – lawinensicher vor allem. Ihre Eignung als „Landeplätze“ ist dagegen, sagen wir diplomatisch, „beschränkt“.
Unter den Rookies und Zweijährigen dieser X-Alps sind nicht wenige, die schon viel Erfahrung haben mit solchen extremen Wettkämpfen und Landungen. Sie üben regelrecht Speed-Landungen, also Hanglandungen mit Rückenwind im Gas – und erheischen damit satte Klickzahlen in den sozialen Medien. Es ist haarsträubend, welche Start- und Landefertigkeiten die Jungs und Mädels zeigen. Die X-Alps machte dies zwischendurch immer wieder schnell. Mehr Strecken wurden geflogen, auch wenn es nicht weit ging, weil man rasch auf einen aberwitzigen Startplatz lief, sich irgendwie raushaute und anschließend in Vorgärten, Baustellen, Parkplätzen, Straßen oder Schneisen reinlandete, in die nicht einmal die ganze Schirmbreite reinpasst.
Mehr Risiko – mehr Unfälle?
Auf Holz gekloppt – „nur“ fünf Verletzte (Kinga rechne ich dazu, die wegen Verletzung nicht starten konnte), macht 16,66 % der 30 Athleten. Es wird meiner Meinung nach noch mehr Risiko als früher genommen, vor allem beim Starten und Landen. Markus Anders sprach nachdenklich in die Kamera, nachdem eine seiner vielen spektakulären Landungen misslang und er sich von unten bis oben weh tat, zum Glück nicht mehr als das. „Jetzt ist es halt einmal nicht gut gegangen.“ Ihm war sehr wohl bewusst, dass das mal passieren kann.
Was mir am meisten Angst macht, ist starker Wind in der Luft. Ich hatte am Simplon im Lee in großer Höhe selbst mal ein Rodeo, das war fürchterlich. Mit ungutem Gefühl beobachtete ich am Bildschirm manche Alpenquerung in diesem Rennen. 90 km/h über Grund! Dabei wurde zu oft sehr nah – oder auch eigentlich zu nah – am Boden bei zu viel Wind ins Lee geflogen. Aber vielleicht war es kein echtes Lee. Ich war ja nicht dabei. Fakt ist, dass ein Gleitschirm in weiträumigem Lee im Gebirge Dinge tun kann, die sehr viel Höhe benötigen, um wieder stabil zu fliegen.
Die Unfälle führten Gott sei Dank nur zu geringen Verletzungsfolgen. Aber ich sah auf diversen Kanälen Starts und Landungen und im Livetracking Sinken und Geschwindigkeiten in engen Tälern. Da war auch Glück dabei, nicht zu knapp, dass sich das ausging. Es ist schade, dass die Flüge nicht zurückgespult werden können oder als IGC-Dateien verfügbar sind, wie in früheren Ausgaben (vielleicht lädt ja der eine oder andere Athlet noch hoch). Man könnte lernen daraus. Man muss aber auch ganz nüchtern sehen: Wer beim Gleitschirmfliegen gewinnen will, muss viel riskieren. Das ist hier nicht anders als beim Skiabfahrtslauf, beim Mountainbike-Downhill, Motorrad- oder Autorennen.
Vogel, flieg oder stirb!
Ach, so heißt es doch nicht, das Red Bull-Motto? Der Nervenkitzel, das Adrenalin, ja, die Lebensgefahr sind fest in der DNS der zuckrigen Energiebrause aus Österreich verankert. Red Bull macht den Athleten gehörig Druck, dass es hart und schnell zu und her geht. Ich persönlich tat mich oft schwer damit, auf den offiziellen Kanälen trotz deren Vielzahl zeitnah vernünftige Informationen zu finden, wenn wichtige (negativ wichtige) Dinge passierten. Unfälle wurden nicht erläutert, was lehrreich wäre, Luftraumverletzungen nur codiert und nicht bildlich und beschrieben in Kurzmeldungen kommuniziert. Da würd‘ ich mir mehr Transparenz wünschen. Lufträume können beispielsweise bei XContest in laufende Live-Tracks gespielt werden. Das nutze ich regelmäßig.
Man meint, nur Anfängern passiere das mit den Airspaces: Stimmt fast! Und man darf sogar Chrigel Maurer dazu rechnen. Der One-and-Only war 2011 ein Zweitjährling, da stieg er in einem Schlauch von unten in einen horizontal geschichteten Anflugraum des Militärflugplatzes Locarno – wo heuer die meisten Läufer und Flieger weite Umwege und Fußmärsche machten – um dem Wirrwarr aus Sperrzonen zu entgehen. Verwirrung stiften wir in der Schweiz zusätzlich mit unseren nicht aktiven und aktiven Lufträumen, deren Aktivität sich während der Tageszeit auch noch ändert! Red Bull vereinheitlicht das mittlerweile mit einigem Recht (Chancengleichheit) für die Athleten. Alle derartigen Lufträume sind als permanent aktiv zu betrachten, also auch außerhalb der Betriebszeiten und am Wochenende, wenn die Normal-Piloten sich dort tummeln, während sie für X-Alps-Athleten verboten sind.
Saubere Jungs – sauberes Bild
Einige Teams haben mittlerweile absolut professionell gemachte YouTube-Kanäle und Blogs. Die Teams von Paul Guschlbauer, Markus Anders und Chrigel Maurer berichten täglich richtig gut. Respekt und Anerkennung! Ich frage mich dabei aber: Haben die wirklich immer und ausschließlich gute Laune? Oder ist es eine Vorgabe von Red Bull oder ihren Sponsoren, dass immer alles so positiv aussieht? Die fidele Truppe um Paul hat sich in einem der letzten Berichte darüber lustig gemacht, so ein bisschen nur. Man will ja schließlich wieder dabei sein, nächstes Mal…
Red Bull zeigt der Werbe- und Marketing-Branche, wie perfektes Event-Marketing läuft. Fast mutiert der Drink als solcher zum Event. Dieses Gefühl ist die elementare Komponente für den Erfolg von Red Bull. Am Geschmack kann der Erfolg meiner Ansicht nach jedenfalls nicht liegen… Mich schmerzt aber ein wenig, wie die Athleten in dieser Hinsicht instrumentalisiert werden. Natürlich: niemand zwingt sie dazu, sich vor diesen Karren spannen zu lassen (genauso wenig wie niemand NOVA zwingt, sie dabei zu unterstützen). Aber ich verspüre doch etwas Wehmut: Manche Dinge – und die Emotionen, die die Athleten da draußen erleben, gehören zum intensivsten, was man sich vorstellen kann – gehören einfach denen, die sie erleben. Und ein wenig jenen, die das gern anschauen. Der Fußball gehört auch den Kickern und ihren Fans – und nicht der UEFA bzw. der FIFA. Manchmal ist es schade, dass es bei diesem tollen Alpenrennen nicht so ist. Andererseits: ohne Red Bull gäbe es die X-Alps ja gar nicht.
Nicht zuletzt bin ich davon überzeigt, dass die da draußen unter den Schirmen und auf den Bergpfaden trotz allem ihren Spaß haben. Viel Anstrengung, viel Arbeit – und manchmal auch ein wenig Humor und Selbstironie. Sie sind im «Flow», wie es Markus Anders sagte. Und ab und zu demonstrativ ein Schluck zu viel Bier auf der Strecke vor laufender Kamera oder in Markus‘ Fall am abrupten Ende seines Rennens eine ganze Flasche.
Der Rennbericht von heute
Für Théo de Blic endete endlich seine Strafe, aber genutzt hat es ihm nichts. Er wurde mittlerweile von den immer noch hoch motivierten Gavin McClurg und Kaoru Ogisawa überholt und fiel so dem Red Bull-Sensenmann zum Opfer. Schwamm drüber, Théo! (Wir haben berichtet.)
Yael Margelisch, übernachtete, nachdem die Südostseite des Mont Blanc gar nichts hergab, gestern im Kreise ihrer Lieben in Verbier. Heute versuchte sie auf den Spuren von Chrigel Maurer und Eduardo Garza ihr Glück im Wallis. Das führte, wie erwartet bei den Prognosen, nicht besonders weit. Sie biss schon am Dent de Nendaz auf Granit (aus welchem das Unterwallis südseitig besteht).
Die Flugprognose war heute streckenweise von West nach Ost ganz gut – aber mit einer tollen Kappe Nordwind. Wenn manche heute flogen, als irrten sie in den Alpen umher, lag das vielleicht an diesem Nordwind. Paul Guschlbauer als Vorderster im Rennen erwischte es am Schlechtesten. Er kam unendlich langsam über Meran Richtung Kronplatz voran, wanderte über einen Höhenweg auf unter 2000 Metern Richtung Meran. Dort vorne zeigte der Windsack am Berggasthaus Hochmuth Abwind, das Webcam-Bild nach Südosten wirre Wolken, keine Kumuli, wo sie hingehörten, aber labile Verhältnisse und: Wind.
Wer wagt gewinnt. Manchmal…
Hinter Paul entbrannte ein Kampf um Strecke sondergleichen. Vom Veltlin bis ins Vinschgau zeigen nicht weniger als sieben oder acht Jungs, was Streckenfliegen unter schwierigsten Bedingungen in den Alpen ist. Alle, außer Aaron Durogati, der schon durch ist, müssen noch am mächtigen Piz Palü vorbei. Widmen wir uns heute dieser Gruppe von noch Fünfzehn im Rennen.
Tobias Grossrubatschers gewagte Taktik, nicht so hoch aufzusteigen, sondern lieber hinaufzukurbeln, geht auf: Tobi kann über immer höhere Hänge aufdrehen, und mit klopfendem Herzen zu Michal Gierlach sowie Ferdi van Schelven aufschließen. Der Südtiroler erspart sich den gewaltigen Gebirgsmarsch der beiden Flachländer an diesem zwölften Tag. Sie leisten am Boden Dinge weit jenseits dessen, was Chrigel Maurer in seinen sieben Blitzsiegen durchstehen musste. Sie kämpfen bis zum letzten Schweißtropfen. Sie sind nicht die Sieger, aber die wahren X-Alps-Helden. Hoffentlich macht es ihnen immer noch Spaß! Tobi heute sicher. Ich kann es richtig fühlen, wie er zitterte, ob er an den Piz Palü rankommen würde, aus zweifelhafter Tiefe, den langen Fußmarsch vor Augen, wenn es nicht klappt.
Knackpunkt Piz Palü
Zur Stunde wendet Damien Lacaze zu Fuß am tiefsten Punkt des Zylinders, auf einer Hochalm im Osten des Piz Palü. Auch er hat diese Boje endlich im Sack und würde auch sicher gern in großen Höhen dort wegfliegen, wie die anderen. Was ihm vorerst verwehrt scheint. Er steigt, den Sack am Rücken, aus dem Hochtal ab. Von den Pässen im Norden her bläst kräftiger Wind, vielleicht sogar Nordföhn. Die Druckdifferenz Nord-Süd könnte in dieser Region beachtlich sein. Ferdi fliegt als erster bis fast Tirano, dreht dort am letzten Gipfel vor dem Talgrund auf. Kein Kreis liegt über dem anderen, zweifellos schwierige Windverhältnisse. Alle drei müssen das Puschlav hinunter nach Tirano, weit weg von der Ideallinie, der Nordwind ist zu stark. Tobi versucht vorher eine Querung nach Osten, muss dann aber als Tiefster talauswärts den anderen folgen. Am über zwei Kilometer hohen Hang über der Stadt findet Tobi Steigen ohne Nordwind: 4 m/sec Steigen!
Aaron profitiert indessen von westlichen Winden im Talschluss des Ultentals, das ihn direkt nach Meran führt und bis zu Paul auf dem Weg zum Kronplatz. Für beide altgedienten X-Alps-Veteranen sicher ein interessantes Detail am letzten richtigen Streckenflugtag. Paul hat im Vinschgau heute noch keinen Startplatz gefunden, der Strecke verspricht und Aaron gerät im Ultental in Nöte. Wieder Nordwind? Er muss tief ins Tal hinabgleiten, findet Thermik, die ihn stark versetzt auf der Südseite (!) des Tals wieder hoch bringt. Auf ihn wartet die weite Talquerung über Meran, die Paul nicht machen muss, der im Norden der Stadt von Hang zu Hang fliegen kann – wenn der Wind ihn lässt. Aaron muss landen. Es scheint also schwieriger zu werden, ob örtlich oder zeitlich.
Etappensieg für Deutschland?
Derweil kommt Manuel Nübel wie aus dem Nichts – auf dem Luftweg. Er startete weit hinten im Veltlin mit Toma Coconea und vor Eduardo Garza eine sagenhafte Aufholjagd, flog ohne zu landen in den Zylinder des Piz Palü! Er hat im Laufe des Tages die Gruppe vor ihm von hinten aufgerollt. Gegen 14 Uhr querte er mit gewaltiger Höhe über das Stilfserjoch nach Südtirol! Schließt er womöglich noch zu seinen Veteranen-Kollegen Paul und Aaron im Südtirol auf?
Auch der fliegende Holländer Ferdi van Schelven hat Aaron eingeholt. Nein, das ist doch unfair. Auf wenige Dutzend Kilometer wechseln die Streckenflugbedingungen jetzt dramatisch. Aber unfair? Was ist denn wettermäßig schon fair an diesen und vielen X-Alps? Die Athleten wissen das, freuen sich, wenn was geht und müssen es gelassen nehmen, wenn nix geht.
Was für eine internationale Truppe jetzt im Vinschgau und Umgebung: Paul AUT1, Ferdi NED, Aaron ITA1 und Manuel GER1. Dahinter nochmal dicht auf in guter Flughöhe drei weitere Teams. Ein richtiges Rennen ist da im Gang, das größte bisher zwischen Piz Palü und dem Kronplatz. Wird sogar noch einer dort einfliegen oder laufen? Das wäre ein sehr versöhnlicher Abschluss. Morgen ein letzter Blick auf die Lage vor der Abreise nach Zell, wo immer die Yael und die Jungs auch sind.
Text: Roland Mäder (NOVA Teampilot)
PS: Schaut euch unsere X-Alps-Clips in den YouTube- und Facebook-Playlisten an.