Tag 11
NOVA X-Alps Blog: MI, 30.06.21
Das Unmögliche geht doch!
Die meisten Gleitschirmflieger hegen große Bewunderung für die Leistungen, die die X-Alps-Athleten erbringen. Sie fliegen wahnsinnig weit auf teils unglaublichen Routen. Sie fliegen bei zum Teil irrwitzigen Bedingungen. Sie schaffen es umgekehrt auch, „ohne Thermik“ und bei niedriger Basis irgendwie erstaunlich weite Strecken zurückzulegen. Und regelmäßig gelingen ihnen fliegerische Schachzüge, von denen die allwissenden Locals sagen: „das geht nie im Leben!“ Doch, es geht. Man muss es nur machen. Sie sind grandiose Piloten – wenn auch mit einer für mich manchmal erschreckenden Risikobereitschaft! Aber das ist ein anderes Thema.
Können die meisten Normalpiloten die Fliegerei noch irgendwie nachvollziehen, glaube ich, dass die allermeisten kaum eine Vorstellung davon haben, was die Komplexleistung der X-Alps-Athleten angeht:
- die unglaubliche körperliche Anstrengung;
- der Druck, gut abschneiden zu wollen und gefühlt zu „müssen“;
- der Wille, den Sponsoren und Partnern gegenüber zu liefern;
- dieses Gefühl, nach dem Jahr der Vorbereitung (soviel strecken die Top-Leute rein), der Aufopferung, der Vernachlässigung von Familie und Freunden sowie des Fokussierens auf diesen einen Event, dann auch etwas auf die Beine zu stellen, dass das alles rechtfertigt;
- der Zwang, während des Wettbewerbs permanent Entscheidungen treffen zu müssen;
- und das Ganze an zwölf aufeinander folgenden Tagen. Immer wieder und wieder.
Ich habe mich mein ganzes Leben für den Sport begeistert, sowohl aktiv als auch passiv vor der Glotze oder mit der Tageszeitung. Ich habe mal bewusst nachgedacht, ob mir ein Wettkampf einfällt, der eine vergleichbare Komplexleistung einfordert. Mir ist auch nach intensivem Sinnieren nichts eingefallen. Fällt euch Lesern was ein?
X-Alps für Arme – mal selbst mitmachen
Seit vielen Jahren nehme ich immer wieder an Hike & Fly-Wettbewerben teil, meist an den Bordairraces (www.boardairrace.com) und den Crossalps. Sie haben das beliebte 33-Stunden-Format und den Untertitel „Wendepunkt am Limit“. Das bedeutet, dass jeder Teilnehmer selbst entscheidet, wohin er fliegt, wo er seinen persönlichen Wendepunkt am Limit setzt – und wie fertig er sich schließlich machen will. Die Topleute laufen ohne zu schlafen die Nacht durch, und es wurden schon Strecken von über 140 km zu Fuß zurückgelegt. Dazu kommen die Höhenmeter im Aufstieg und geflogen wird natürlich auch. Das klingt bereits ziemlich abgefahren und anstrengend. Aber das Gute daran ist: Nach den 33 Stunden ist der Spuk vorbei und man kann sich richtig ausruhen.
Mehrtages-Events sind eine andere Nummer
Ich habe einige Expeditionen unternommen, meist in der Arktis, sowie zweimal am Transalpine Run teilgenommen (ein Trailrunning-Etappenrennen an acht aufeinanderfolgenden Tagen über die Alpen). Es ist ein große Herausforderung, sich seine Körner so einteilen zu müssen, dass man zum Ende hin immer noch genug davon hat und eben nicht einbricht. Da ich als Ausdauersportler und Pilot weder gut noch risikobereit genug bin, um an die X-Alps auch nur zu denken, kamen mir 2017 das erstmals ausgetragene Dolomiti-Superfly wie gerufen (www.dolomitisuperfly.com): sieben Tage über einen Rundkurs und mit längeren Ruhezeiten als bei den X-Alps. Das traute ich mir zu.
Es wurde eine ganz andere Nummer als die Bordairraces. Ich flog ziemlich schlecht und musste ergo viel laufen. Wenn ich mich recht erinnere, waren es gut 50 km pro Tag plus jeweils gut 2000 Höhenmeter im Aufstieg. Am Ende war klar, dass es ganz, ganz eng werden würde, wenn ich das Ziel noch rechtzeitig erreichen wollte (was ich schließlich 30 Minuten vor Schluss schaffte). Um Trento herum gab es eine Flugverbotszone und ich musste an den beiden letzten Tagen nonstop und mit einen Schnitt von nicht unter 5 km/h wandern.
Das eine ist die körperliche Anstrengung, das andere ist der Kopf. Auch der Geist wird irgendwann immer müder und träger. Es kostet eine irrsinnige Anstrengung, sich zu motivieren. Was soll der Sch… hier eigentlich? Warum tust du dir das an?
Noch nie erlebte Müdigkeit
Aber am extremsten empfand ich diese unglaublich tiefe Müdigkeit. Der Körper ist so platt, so ausgelaugt, so schwer. Er schreit nach Ruhe, nach Schlaf, nach Nichtstun. Die Beine hängen irgendwann wie Holzklöppel an der Hüfte, als würden sich nicht mehr zum Körper gehören und wären ferngesteuert. Alles, was man erledigen muss, egal wie nichtig diese Tätigkeiten sein mögen ist zu viel, zu anstrengend: Handy laden, Schnürsenkel binden, Löffel zum Mund führen, Trinkflasche hochheben, frische Socken raussuchen. Stress, alles der pure Stress! Hätte mir mein Supporter Tommy Frey unterstützt von Markus Anders (ein ganz feiner Mensch, übrigens!) angeboten, mich zu füttern oder mir auf der Toilette den Pöppes abzuwischen, ich weiß nicht, ob ich abgelehnt hätte. Bei den X-Alps, nehme ich mal an, dürfte das nicht anders sein – nur nochmal ein paar Nummern intensiver!
Reich, berühmt und unwiderstehlich
An der Spitze geht es ums Gewinnen, um Ruhm und Ehre (wer als Weltklasseathlet auch monetär von seinem Tun profitieren will, sollte lieber Tennis, Fußball oder Golf spielen oder mit einem Formel-1-Auto im Kreis fahren). In der Mitte des Feldes geht es vor allem darum, die eigenen Erwartungen zu erfüllen. Und ganz hinten droht alle 48 Stunden die – gefühlte – Schmach der Eliminierung, von Red Bull mit dem Sensenmann illustriert. Na ja, erzielt vielleicht etwas Aufmerksamkeit = Reichweite in den Sozialen Medien.
Wie sich zum Beispiel Nick Donini (bis zu seinem Crash mit der Materialseilbahn) angesichts seiner möglichen Eliminierung verhielt, kann man nicht hoch genug wertschätzen. Ihm drohte der X-Alps-Sensenmann, nachdem er eine Luftraumverletzung begangen und 48 Stunden Strafe aufgebrummt bekommen hatte. Nach einer knappen Woche X-Alps war der Bursche – wie alle anderen auch – ja sowieso schon platt. Er spürte seit einer Weile bestimmt auch diese bodenlose Tiefenmüdigkeit. Also zog er seinen Night Pass, denn die 48 Stunden Strafe beginnen erst, wenn man das nächste Mal ruht, um der Eliminierung zu entgehen.
Dumm nur, dass er den Night Pass an einer ungünstigen Stelle ziehen musste: in den Bergen zwischen Säntis und Walensee, wo kann man kaum Kilometer zu Fuß fressen kann. Seine Chancen standen, nüchtern betrachtet, eher schlecht. Eigentlich galt für ihn der abgedroschene Spruch: Du hast keine Chance, also nutze sie. Nick kämpfte mit Bravour, konnte sich motivieren, blieb gut gelaunt und machte tatsächlich eine Menge Boden gut – bis er im Formationsflug mit seinem NOVA-Kollegen Théo de Blic kurz vor dem Klausenpass in eine Materialseilbahn flog. Ein genau solches Malheur geschieht unter diesen Umständen noch viel leichter.
Wenn ich hier von Nick schreibe, dann deshalb, weil ich ihn als NOVA-Piloten intensiver verfolgte. Das gilt aber in gleichem Maße für alle Athleten, egal wo im Feld. Sie verdienen allergrößte Hochachtung – alle miteinander!
Warum gibt es so viele Luftraumverletzungen?
So mancher mag denken „Wie kann das denen passieren, dass sie immer wieder in die Airspaces reinrauschen? Mein Fluginstrument warnt mich doch frühzeitig. Und die haben sogar noch ihr Support-Team, das sie warnen könnte!“ Stimmt. Dazu kommt, dass seitens des Veranstalters die Strafen satt sind. Mit Recht, es geht darum den Luftverkehr nicht zu gefährden.
Dabei widerfahren die Airspace-Unachtsamkeiten nicht nur den Rookies (dieses Jahr bislang Donini, de Blic und Lacaze), sondern auch den Veteranen, zuletzt Aaron Durogati. (Anmerkung: zum Redaktionsschluss war noch nicht genau klar, ob es wirklich stimmt).
Auch hier glaube ich, dass die Umstände in ihrer Gesamtheit dafür verantwortlich sind. Man handelt irrational. Oder man handelt auch gar nicht mehr. „Es“ passiert einfach. Oder wie Théo de Blic sich anschließend wunderte: „Ich kann mir nicht erklären, warum es geschah“.
Alle Gleitschirmfliegern, die während der letzten Tage wie die Fußballbundestrainer oder Epidemiologen daheim auf dem Sofa saßen und alles besser wussten, sollten sich fragen, ob wir das aus der Ferne wirklich beurteilen können. Ich schriebe bewusst „wir“, denn das gilt natürlich auch für diesen Blog. De facto stochern wir ziemlich im Nebel herum. Roli und ich geben uns Mühe zu recherchieren und mehr in Erfahrung zu bringen. Man möge uns aber bitte verzeihen, wenn wir mal mit der Interpretation des Geschehens daneben lagen.
Zum Tagesgeschehen heute
Da wir schon so viel von Motivation gesprochen haben: davon zeigt heute Benoit Outters jede Menge! Er wird mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit Rang fünf belegen. Noch eine goldene, sagen wir besser, silberne Ananas. Er könnte es langsam angehen lassen, sein Vorsprung nach hinten ist üppig, und er könnte auch morgen oder gar übermorgen ins Ziel. Aber nein, der Feuerwehrmann, Rettungssanitäter und Ultra-Läufer zog gestern den Night Pass und gab Gas!
Zum Redaktionsschluss ist er noch ca. 15 km Luftlinie von der Schmittenhöhe entfernt. In den letzten 48 Stunden konnte er nur wenig fliegen, legte aber über 150 km zu Fuß zurück, insgesamt bereits über 575 km! Red Bull nennt ihn den „außergewöhnlichsten Ausdauersportler des Rennens“. Zu Recht! Wie eine perfekt eingestellte und gut gewartete Hochleistungsmaschine stürmt er dem Ziel entgegen, ohne nachzulassen oder äußerliche Anzeichen der Ermüdung. Großartig.
Streckenfliegen, wenn es eigentlich nicht geht
Ein Chrigel-artigen Magic Move packt hinten im Feld der Mexikaner Eduardo Garza aus. Er bog unmittelbar nach dem Turnpoint Mont Blanc wieder ins Wallis ab und hoffte dort auf besser fliegbare Bedingungen. Starke Entscheidung: er fand sie! Während südlich von Grand Combin, Matterhorn und Monte Rosa Michel Lacher, Tom de Dorlodot und Steve Bramfitt vom Wetter zum Wandern verdonnert wurden, flog er ins Wallis, dort nach Osten bis zum Riederhorn, querte dann wieder nach Süden und bretterte auf der Kampflinie diagonal nach Südosten bis nach Domodossola. Wahnsinn der Bursche! Nach unseren Information gehört er zu den wenigen X-Alps-Teilnehmern, die nie in den Alpen gelebt haben. Ein Riesennachteil! In diesem Fall vielleicht ein Vorteil, weil es einer dieser „ist-nicht-möglich-Schachzüge“ war? So oder so: ebenfalls großartig!
Von wider Erwarten guten XC-Bedingungen im Tessin profitiere auch das Mittelfeld. Die Tagesflugkilometer zum Redaktionsschuss: Manuel Nübel 220 km, Toma Coconea 195 km, Ferdinand van Schelven 175 km, Damien Lacaze 150 km, Michael Gierlach 119 km. Und die Burschen sind noch alle in der Luft. Zum dritten Mal: großartig! Übrigens habe mir gerade die heutige Vorhersage von www.paraglidable.com angeschaut: die war heute verblüffend zutreffend!
Übermorgen, Freitag, den 2. Juli 2021, endet das Rennen um 11:30 Uhr. Sollten doch noch weitere Athleten das Ziel erreichen, weil sie fliegen geht, obwohl es laut Wettervorhersage nicht geht? Unwahrscheinlich. Aber vielleicht doch nicht unmöglich. Die Sache gewinnt noch mal an Spannung.
Text: Till Gottbrath (Captain NOVA Team Pilots)
PS: Schaut euch unsere X-Alps-Clips in den YouTube- und Facebook-Playlisten an.