Tag 9
NOVA X-Alps-Blog: MO, 28.06.21
Etwas Nachtarocken: Maurers Magic Move von gestern – eine Analyse
Zwar konnten heute die vier Verfolger Pinot, Oberrauner, Outters und von Känel ein wenig Boden gut machen, aber nie in einer Art und Weise, die Chrigel bedroht hätte. Vermutlich hat er es weder bemerkt, noch hätte es ihn gekümmert. Aber schauen wir nochmal zurück auf gestern. Denn da entschied sich das Rennen und Blogger-Kollege Roli Mäder erfuhr mit Hilfe seines weit verzweigten Netzes an erfahrenen Streckenpiloten etwas mehr, als die Red Bull-Website verriet. Roli mailte mir:
„Maxime Pinot sprach am Sonntag morgen während des Aufstiegs zum Simplonpass in die Red Bull-Kameras, er wähle die Route im Süden der Südalpen, um dem drohenden (Süd-)Föhn und den prognostizierten Gewittern aus dem Weg zu fliegen. Chrigel erklärte den Videoleuten an seinem Startplatz am Eggishorn in Fiesch, er wolle auch in den Süden, über den Nufenenpass ein Stück weiter oben im Wallis – ohne zu landen, nehmen wir mal an – fügte aber hinzu, es gäbe sonst ‚die Option, den ganzen Weg Richtung Chur zu fliegen‘. Und wenn es windig würde oder Gewitter aufzögen, könne er über den Pass ins Engadin zum Piz Palü marschieren. Mit dem Pass meinte er dann wohl den Julier.
Ein bisschen Dramatik verkauft sich besser
Die Red Bull-Berichterstatter befragten Andi Jäggi, den Supporter von Patrick von Känel, abends zum Thema Föhn und Gewitter. Jäggi habe gesagt, so Red Bull im schriftlichen Tagesbericht, «that the Gotthard pass and area around Andermatt can see some of the strongest föhn winds in Switzerland and usually flying there is a strict no-go. ‚You don’t do that,‘ he added. ‚So, Chrigel was chased by thunderstorms and föhn but made it through.’ »
Ein striktes «No-Go» sei also das Fliegen in Andermatt und am Gotthardpass. Das ist – in dieser reduzierten Form – eine schlichte Falschinformation. Dort wird viel geflogen und gut geflogen. Und bei nur 2 hPa Druckunterschied Süd-Nord und wenig Wind in der Höhe war es gestern auch absolut richtig, es dort zu versuchen. Zudem hat ein X-Alps Pilot Kontakt zu seinem Bodenpersonal, das auf der Strecke den Föhn und auch Gewitter im Auge behält und den Piloten in der Luft bei Bedarf früh genug warnt. Föhn und Gewitter haben Chrigel nicht gejagt, wie der Bericht es formuliert. Ja, er hatte Südwind, in der Höhe auch kräftigen, aber keinen Föhn. Chrigel hatte fliegbare Bedingungen. Auch nach ihm blieb es ruhig – kein nahendes Unheil wegen Wind und Wetter – bis zur Landung gegen 19 Uhr im Vinschgau nicht.
Ich glaube, man sollte Chrigel nicht vorwerfen, verzweifelt ein gewaltiges Risiko gesucht zu haben, um seine ungewohnt nahen Mitstreiter mit einem seiner bekannten Zaubertricks abzuschütteln. Er wählte die richtige Taktik und flog einfach meisterhaft. Man sollte auf der anderen Seite Maxime auch nicht blind loben, er habe nur aus Sicherheitsüberlegungen südlich des Simplons sein Glück probiert. Er liebäugelte selbstverständlich mit der Chance, dort weiter fliegen zu können als in den großen Tälern im Norden, wo ja eben von Föhn und Gewittern gesprochen wurde. Aber eben nur in den Prognosen.
Maxime verpokerte sich am Simplon
Pech für Maxime: Es passierte, was rund um Domodossola im Sommer gerne passiert: von Süden schiebt sich stabile, trübe Luft an die Alpen heran und in die Täler hinein. Es macht nicht auf und es macht früh noch mehr zu. Ein Himmel aus Blei. Maxime hat keine 30 km ohne Höhenverlust fliegen können und kaum je einen Voralpengipfel von oben gesehen. Sein gewaltiger Rückstand sowie der seines Weggefährten Benoit Outters entstand aufgrund von Wetterprognosen, die nicht zutrafen.
Und dann kam bei Chrigel vielleicht auch noch das Glück des Tüchtigen dazu. Weiter im Osten auf seiner Route zeigten die Alpen zeitweise und bis in den Abend hinein ein Traumbild für den guten und mutigen Streckenflieger: sehr hohe Basis, nicht zu viel Wind und keine Überentwicklungen.
Chirgel und Maxime zogen einen Night Pass. Chrigel nutzte seinen nicht, um das Meraner Nachtleben kennenzulernen, sondern stieg nördlich der Stadt früh auf die Mutspitze – einen beliebten Flugberg mit Osthang. Maxime machte auch nicht allzu viel aus seinem Investment, wanderte auch auf einen Startplatz mit gutem Osthang am Comer See, und behielt seinen Platz in der Verfolgergruppe, die sich um die Ränge zwei bis fünf balgt.“
Soweit also Blogger-Kollege Roli Mäder mit den Insider-Wissen des Schweizerischen Streckenfliegers. Was ihn persönlich sehr berührte – nette Begebenheit am Rande – war die Tatsache, dass Patrick von Känel in der abendlichen Dämmerung direkt vor dem Wachhäuschen der Militärkaserne Losone landete, wo Roli vor 35 Jahren missmutig Wache schob und ein paar Monate seiner besten Mannesjahre verbrachte. Patrick und Simon Oberrauner, der eben auf der Straße aus dem Centovalli an der Kaserne vorbeiwanderte, marschierten von dort gemeinsam weiter. Sie hatten sich nach ihren gewaltigen Flügen – auf unterschiedlichen Routen und zeitlich etwas versetzt – sicher viel zu sagen.
Blick nach hinten
Laurie Genovese hat sich seit ihrer Ankunft in Fiesch nicht mehr bewegt. Von ihr gibt es auf der X-Alps-Facebook-Seite ein emotionales Video, wie sie bei der Ankunft am dortigen Signboard in Tränen ausbricht. Es sind Tränen der Erschöpfung, Tränen größter emotionaler Anspannung. Und wer sich darüber lustig zu machen wagt, dem sage ich: Du hast keine Ahnung davon, was diese Athleten leisten, wenn du nicht selbst schon an einem mehrtägigen Hike & Fly-Rennen teilgenommen hast. Die Tränen stehen Laurie zu und sie werden ihr gut tun! Leider konnten wir nicht in Erfahrung bringen, warum sie sich nicht mehr weiter fortbewegt.
Theo de Blic hat gestern tatsächlich eine Luftraumverletzung begangen und war zunächst sehr frustriert: denn er hat sie wissentlich begangen und sie dennoch nicht verhindert. Er kann es im Nachhinein selbst nicht verstehen. Es ist erstaunlich, zu welchen irrationalen Handlungen man fähig ist, wenn man nur müde und erschöpft genug ist. Hinzu kam zuvor das Ausscheiden seines Markenkollegen und Freundes Nick Donini, sowie die eigene unsanfte Begegnung mit der Materialseilbahn. In der Folge wanderte Théo auf eigenen Wunsch zum ersten Mal ohne Begleiter. Seine Vater, selbst Fluglehrer und Kenner der Materie, sagte heute, er wolle bei den nächsten X-Alps nicht mehr zum Support-Team gehören. Es schmerze zu sehr, den eigenen Sohn so leiden zu sehen.
Pfannenkuchen als Stimmungsaufheller
Den heutigen Tag begann Théo mit einem Aufstieg auf die Nordseite des Knies von Martigny. Er startete nahe der Tète du Portail, um von dort das Rhone-Tal zu queren. Aber die Verhältnisse ließen es nicht zu, dass er fliegender Weise Boden gut machen konnte. Nach einem weiteren Aufstieg zu Fuß konnte der den Turnpoint 8 in der Luft umrunden – und glitt dann wegen eines Gewitters ab ins Tal. Es war ein weiterer schwerer Tag für ihn, berichtete mir Vera Polaschegg am Telefon. Vera begleitet Théo – soweit möglich – mit der Kamera. Derzeit halten den Franzosen andauernde Regenfälle und Gewitter fest. Vera hat daher ganz pragmatisch die Kamera gegen den Kocher getauscht und versorgt die ganze Truppe mit Schokoladenpfannenkuchen. Auch Théo kann wieder lachen.
Für heute Nacht hat er seinen Night Pass gezogen, denn die 48 Stunden Zeitstrafe müssen erst im Anschluss an die nächste Ruhephase abgesessen werden. Vielleicht kann er ja doch noch der Eliminierung entgehen. Aber von hinten rücken der unverwüstliche Kaoru Ogisawa – der Japaner ist 61 Jahre alt! – und Gavin McClurg näher und näher.
Noch jenseits des Mont Blanc befindet sich ein Athleten-Trio bestehend aus Eduardo Garza, Michael Lacher und der unfassbar starken Yael Margelisch. Gestern zeigte sie, was sie fliegerisch drauf hat, heute beweist sie, dass sie den Männern in Sachen Power und Motivation in nichts nachsteht. Ein kleines Stück weiter davor kann Manuel Nübel mehr oder weniger auf Steve Bramfitt aufschließen. Mal sehen, ob auch sie ein Zweckgemeinschaft bilden werden.
Die Pakete im Mittelfeld
Am frühen Nachmittag umrunden Markus Anders, Ferdinand van Schelven, Tom de Dorlodot und Toma Coconea den Turnpoint Mont Blanc. Mehr als ein verlängerter Abgleiter ist bei keinem der Vier drin. Sie müssen viel zu Fuß gehen und kommen nicht recht vorwärts. Immerhin: die Klippe Mont Blanc ist erfolgreich umschifft. Man muss das Positive sehen!
Nicht viel anders ergeht es dem rund 30 km weiter vorn liegenden Michal Gierlach, dem Italo-Duo Durogati & Großrubatscher (warum kommen mir die Initialen nur bekannt vor?) weitere 30 km östlich, sowie Paul Guschlbauer, nochmals 15 km weiter vorn. Starten – fliegen – landen – packen – gehen – repeat. Aufholen kann man so nicht. Aber das liegt am Wetter und nicht an den Piloten.
In Schlagdistanz zum Ziel kann hingegen weit geflogen werden. Während bei Chrigel auf dem Floß im Zellersee das Knallen der Sektkorken bereits verhallt ist, landen gegen 18.30 Uhr Simon Oberrauner und Maxime Pinot innerhalb weniger Minuten auf dem Kronplatz. Anders als Maurer am frühen Nachmittag und dessen Landsmann von Känel einige Stunden später, die beide die etwas längere aber fliegerisch einfachere Route über das Pustertal gewählt haben, flogen sie die Kampflinie: quer durch die Sarntaler Alpen und weiter über die berühmt-berüchtigte Lüsener Alm, wo der Wind gerne mal gleichzeitig von überall kommt und scheinbar gute Thermikbärte plötzlich im absoluten Nichts verpuffen. Aber das macht Piloten dieser Klasse nichts aus. Gegen 20 Uhr starten sie wieder am Kronplatz in Richtung Zell am See. Benoit Outters hat in der Gruppe, die heute gut aufholte, deutlich die schlechtere Route gewählt und die Tagesleistung seiner Mitflieger nicht erreichen können. Er wird bis morgen warten müssen, um die letzte Boje vor dem Ziel auf dem Kronplatz abzuzeichnen.
Das Rennen endet dieses Jahr offensichtlich nicht 48 Stunden, nachdem der Sieger das Ziel erreicht hat, sondern fix am 2. Juli. Mal sehen, wer es noch alles ins Ziel schafft.
Text: Till Gottbrath (Captain NOVA Team Pilots)
PS: Schaut euch das Video von Tag 9 und weitere Clips in unseren Playlisten auf YouTube und Facebook an.