Tag 8
NOVA X-Alps Blog: SO, 27.06.21
Wirklich alles richtig gemacht
Im Detail: Perfektes Wetter-Timing hilft heute dem Schweizer. Beste Streckenflug-Bedingungen auf paraglidable.com für das südliche Graubünden. So kann Chrigel nahe genug an den Bergriesen Piz Palü herankurbeln und im Flug diese schwierige Boje abhaken. Kumuli umwehen um viertel vor Fünf in einem blauen Himmel den Gipfel auf 3900 Metern über Meer. In eisigen Höhen kann Chrigel sogar auf der richtigen Seite des Bergs weiterfliegen – Richtung Italien zum Turnpoint 11 Kronplatz. Und er fliegt und fliegt. Mit zweieinhalb Metern Steigen überquert er die Grenze nach Italien. Vermutlich mit einem fetten Grinsen im Gesicht.
Nicht minder perfekt war Chrigel’s Tages-Timing: Schon vor neun Uhr, wenn sonst selten in Fiesch ein Streckenflug gestartet wird, steigt er unter dem Eggishorn im ersten brauchbaren Schlauch. Er entgeht mitten in Tälern drohenden Abgleitern, steigt überall raus und kann die Route über vier (!) hohe Pässe, die er teils mehrfach in seiner Strecken- und Wettkampfkarriere überflogen hat, durchziehen. Von neun Uhr morgens bis sieben Uhr abends – zehn Stunden, 220 Kilometer direkte Linie von Fiesch bis Meran. Was für ein gewaltiger Flug! Einer seiner besten in seiner langen Reihe begeisternder Flüge.
Wenn Umwege schneller zum Ziel führen
Während Chrigel seine geniale Route in einem weiten Bogen nach Norden mit Thermikfliegen in eisigen Höhen krönt, haben sich die vier nächsten Verfolger für die direktere Linie durch Piemont und Lombardei entschieden. Aber Benoit Outters, Patrick von Känel, Simon Oberrauner und Maxime Pinot kommen schließlich im Val Vigezzo nicht mehr recht vom Fleck. Sie wandern und fliegen unter dichter Bewölkung und zäher Hangthermik im diffusen Licht des späten Nachmittags. Was für ein Unterschied zu Chrigels Tagesbeute.
Chrigels Zeit in der Lombardei ist von kurzer Dauer. Bormio lässt er rasch hinter sich und quert westlich des Ortlers hinein nach Südtirol. Was soll man da noch herumnörgeln, ob es nicht direkt nach Meran gegangen wäre, in über 3000 Metern Höhe…? Die Wetterfotos zeigen schon breite Wolken über der Kette. Es geht nicht mehr überall gratis. Doch die Luft ist auch nördlich des Ortlers noch labil, trotz viel Schattens. Chrigel klettert wieder weit über 3000 Meter und kann das Vinschgau hinab Richtung Meran gleiten. Fünfzehn Kilometer vor der Stadt endet sein Flug am Ufer der Etsch. Macht am Ende so um die 170 km Vorsprung auf die Verfolger!
Am Simplon wird wieder Geschichte geschrieben
Der Simplon hat seinen ewigen Platz in der Geschichte der Luftfahrt: einer der ersten gewagten Alpenflüge führte über diesen hohen Alpenpass zwischen der Schweiz und Italien – mit einem Motorflieger. Im September 1910 überflog Jorge Chávez Dartnell von Brig kommend den Pass und überquerte damit als erster mit einem Motorflugzeug den Alpenhauptkamm. Er stürzte bei der Landung in Domodossola aus wenigen Metern Höhe ab und erlitt dabei tödliche Verletzungen. Heute wurde der Simplonpass Maxime und Benoit zum Verhängnis, zwar nicht so arg wie Dartnell, aber emotional sicher sehr schmerzhaft für die beiden ehrgeizigen Franzosen. Und der Simplon hat ab heute auch seinen ewigen Platz in der X-Alps-Erfolgsgeschichte von Meister Maurer. Hier verlor Frankreich die Schlacht gegen den listenreichen Schweizer.
In Brig trennten sich am Morgen die Fußwege der meistgenannten Favoriten 2021, Chrigel und Maxime Pinot. Am Morgen lagen sie mehr oder weniger gleichauf, abends trennte die beiden eine sagenhafte Distanz. Das übertrifft Chrigels Titlis-Move vor zwei Jahren um Längen. Denn diesmal ist es ein Tagessieg, der einem Gesamtsieg praktisch gleichkommt. Vorausgesetzt, es passiert Chrigel auf dem Weg zum Kronplatz und ins Ziel auf dem Floß in Zell am See nichts Verrücktes. Auch spielen die Wetterprognosen Chrigel in die Füße: Wenig Fliegen steht auf dem Programm, von Tag zu Tag mehr Laufen.
Die Lage der weiteren Verfolger
Was bleibt für die Österreicher, Deutschen, die anderen Schweizer? Eine Menge! Österreich hat seinen unwiderstehlichen Simon Oberrauner in der Vierer-Fluggemeinschaft an der Grenze zum Schweizer Tessin. Simon und Patrick von Känel haben mit der ultrahohen Monte-Rosa-Südpassage heute eine Aufholjagd sondergleichen mit reicher Beute beendet. Sie haben die Franzosen eingeholt! Maxime und Benoit, die Chrigel sieben Tage im Verfolgerfeld so stark bedrängten, stehen nun selber unter Druck. Unter diesen Vier wird höchstwahrscheinlich der X-Alps-Prinz 2021 gekürt.
Paul Guschlbauer und Tobias Großrubatscher (AUT 1 und ITA 2) puschen noch spät heute in der Luft auf der Monte-Rosa-Route, aber ins Piemont werden sie es nicht mehr schaffen. Dann wird es schwierig, morgen Boden gut zu machen, denn die Vier vor Paul und Tobias können die heikle Passage ins Tessin früh in der Luft angehen. Heikel ist dieser Abschnitt nicht nur der Talwindprobleme wegen, die dort eine Rolle spielen können – je länger der Tag fortschreitet, desto mehr – sondern auch wegen der diversen Lufträume des Airport Locarno, die unterschiedlich tief unterflogen oder umflogen werden müssen.
Die Flugwetteraussichten der nächsten Tage sind nicht so, dass diesen starken Taktikern und Piloten von hinten noch große Gefahr droht, ihren mittlerweile gewaltigen Vorsprung auf das Mittelfeld einzubüßen. Außer vielleicht durch die Night-Pässe… Spekulation also, man erlaube das heute, einem richtigen Moving-Day im Rennen. Jedenfalls: die Vier sind sehr stark im Rennen!
Yael Margelisch hat ihren Magic-Move vom Vorderrheintal gestern heute gut verwaltet und liegt fein im Rennen um die Genfer See-Boje. Ihre Weggefährtin von gestern, Laurie Genovese, ist nach dem Ausscheiden von Cody Mittanck (siehe unten) am gefährlichen Ende der Veranstaltung wegen des leidigen Outs alle zwei Tage.
Théo de Blic wieder in der Spur
Der XENON-Pilot scheint den Schrecken von gestern mit der „Begegnung mit der Materialseilbahn“ gut wegzustecken. Aber er muss mit einem kleinen Timing-Problem in den Tag gehen. Er startet vor Mittag hoch am Hang über dem Furkapass und der Flug nach Fiesch stellt ihn vor keine Probleme. Aber wie für alle gilt: das Signboard für den Turnpoint 7 Aletschregion steht unten im Talboden. Die kostbare Höhe wird vernichtet – das muss weh tun im Herz – und rund 1000 Höhenmeter Wiederaufstieg kosten wertvolle Sonnenstunden. Denn ab drei Uhr am Nachmittag ziehen Cirren über dem ganzen Wallis auf und die Cumuli breiten sich zu einer geschlossenen Wolkendecke aus. Der Thermikofen erlischt so langsam, als Théo sich mit allen Tricks bis zwanzig Kilometer an den Tal-Knick bei Martigny vorgeflogen hat. So gehört er zu jenen, die das Rhonetal zum Genfersee gestern nicht fliegend überqueren können – ein deutliches Handicap für die Umrundung von Turnpoint 8 Dent d'Oche. Trotzdem hat Théos lange Marsch- und Flugstrecke von der Furka bis vier Kilometer vor Martigny den Anschluss an eine ganze Reihe von Vorderleuten näher gerückt. Nach hinten hat er Luft – aber wohl eine Luftraumverletzung begangen! Das könnte doch wieder knapp werden… Mehr dazu morgen.
Die bad news von heute
Noch eine Hiobsbotschaft für Frankreich: "Damien Lacaze (FRA5) made a 5.4. rule violation at airspace LEYSIN (Unterwallis, Anmerkung Roli). The Race Committee decided that Damien Lacaze receives a 12 hours time penalty, which he has to take subsequently to his next rest period." Ärgerlich, ja, aber er liegt gut im Rennen, so dass ihn das bei der aktuellen Wetterprognose nicht in Existenznöte bringen dürfte.
Am Ende des Feldes hat es heute Cody Mittanck erwischt – mit einem unvorhergesehenen Ende des Rennens. Im Schächental auf halben Weg vom Turnpoint Säntis zur Boje Fiesch ging der Amerikaner, der weit hinter dem Feld war, landen. Die offizielle Mitteilung: “Cody Mittanck (USA2) has withdrawn from Red Bull X-Alps 2021 due to intense pain in his legs.“
Mit Grüßen aus dem Berner Oberland
Roli Mäder (NOVA Teampilot)
PS: Schaut euch hier das Video von Tag 8 an. Weitere NOVA X-Alps-Clips findet ihr auf YouTube & Facebook.